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#1 | Der Tote im Feld zu Ranna datum

01.05.2021 08:47

Zusammengesetzt aus Pfarrmatriken, Verhörsprotokollen und Akten aus dem 17. Jahrhundert von Weiten bis Aggsbach.

Anstoss dafür, den Lebenslinien der beiden Menschen nachzuforschen gab ein Protokoll datierend vom Jahre 1674, aus welchem hervorgeht, dass ein männlicher Leichnam aufgefunden wurde und die Herrschaft Pöggstall genauso wie die Herrschaft Ranna auf der ordnungsgemässen Administration des Falles bestanden.

Im Jänner 1674 wurde ein unbekannter Mann auf einem Feld zwischen den Landesgerichtsgrenzen gelegen tot aufgefunden. Bauern, die ihn fanden, erkannten ihn als den schon längere Zeit schwer kranken und mittellosen Viehhalter Mathias Lindner.

Mathias Lindner hatte offenbar keine Angehörigen, er zog von Ort zu Ort im Gebiet um den Jauerling und suchte Jahr für Jahr wieder eine neue Halterstelle. 1673 kommt er nach Aggsbach und Singerreith, wo er der 15 Jahre älteren Barbara begegnet, die eine Herberge sucht für sich und ihre drei Kinder.
Zu dieser Zeit ist er bereits schwer krank und sehr schwach.

Barbara Münner war eine Schneiderstochter aus Weiten. 1660 heiratet sie nach dem Tod ihrer Eltern einen 22-jährigen Binderssohn. Tochter Maria wird 1662 geboren, der junge Ehemann und Vater läßt sich kurz danach von kaiserlichen Heer anwerben. Er lässt Barbara und ihre Tochter mittellos zurück und verschwindet spurlos.
Sie findet bisweilen eine Unterkunft als Halterin und geht dem Betteln nach. Nach Weiten zurückgekehrt nimmt sie der Totengräber bei sich auf, dem sie drei Jahre lang bei der Arbeit hilft. Der (verheiratete) ältere Mann schwängert sie und 1668 kommt der aussereheliche Sohn Ludwig zur Welt. Nach dem Tod seiner Frau will er Barbara heiraten, der Pfarrer verweigert jedoch seine Zustimmung, vermutlich wegen des vorangegangenen Ehebruchs und weil man nichts über den Verbleib ihres Ehemannes wußte.
Barbara verlässt also Weiten wiederum und findet um 1672 Unterkunft in Zaissing beim Bauern Mathias Stummer, der sie mit den Kindern im Stadel wohnen lässt und Unterkunft und Verpflegung gegen Arbeit bietet.
Mathias Stummer ist Anfang 60, seine Ehefrau alt und gebrechlich und sechs seiner sieben Kinder ausser Haus.
Anno 1673 wird er von der Obrigkeit verhört, weil Barbara eine aussereheliche Tochter geboren hat und ihn wahrheitsgemäss als Vater angegeben.
Sie selbst schildert wie es scheint emotionslos, dass er als sie ihr Bett im Stadel gerichtet hätte, sie geschwängert habe. Nachdem Ehebruch dazumals ein schweres (und teures) Delikt darstellte, versucht er im Verhör, Barbara schlecht zu reden:
sie sei ein leichtfertigs Soldatenweib, das schon beim Soldaten Philipp Schmidt und beim Halter Mathias Stummer gelegen habe. Er könne also sozusagen nichts dafür, sein Weib sei alt und seine Kinder und Verwandtschaft hätten ihren guten Ruf zu verlieren, er bittet um Milde.
Die er auch erhält.
Auffällig ist, dass Barbara nicht mehr bei ihrem Nachnamen genannt wird. Sie ist nur mehr �die Halterin, das Soldatenweib�. Ihr Ruf ist gänzlich ruiniert, sie muss vermutlich auch für ein paar Stunden an den Pranger wegen des verübten Ehebruchs und zieht mit ihren Kindern weiter, ohne zu wissen wie sie sich und die Ihren unterhalten soll.
1673 bringt Barbara in Aggsbach Tochter Susanna zur Welt. Sie trifft auf den ebenfalls alleinstehenden Halter Mathias Lindner, den sie von einer früheren Viehhalt bereits kennt. Ende November geben sie einander im Beisein mehrerer Zeugen ein Heiratsversprechen. Mathias und Barbara wollen eine �ehrbare Familie� werden.
Der Pfarrer verlangt 45 Kreuzer für die Trauung und sie versuchen, die Summe zu erbetteln, was ihnen nicht gelingt. Hochzeiten waren auch erst wieder im Jänner möglich, nach Advent und Feiertagen. Barbara sagt später, Mathias "hätte sie niemals beschlafen, sei immer zu krank gewesen".
Allerdings ist Mathias zu jener Zeit bereits sichtbar schwer krank. Er konnte kaum gehen und wurde von mitleidigen Menschen von Ort zu Ort mitgenommen um an Almosen zu kommen. Zu Weihnachten folgt ihm Barbara ins Halterhaus nach Singerreith, wo er sie, die 11-jährige Maria, den 6-jährigen Ludwig und den Säugling Susanna aufnimmt.
Mitte Jänner bricht Mathias Lindner frühmorgens auf, um nach Ottenschlag zu gehen um dort vor der Kirche zu betteln.Er sei �waxgelb� gewesen, gross geschwollen und allgemein krank, wie es heisst. Er war �übel gekleidet� und sein Gewand sei gänzlich aus kleinen Flicken zusammengenäht gewesen berichten Zeugen, die ihm auf seiner einsamen Wanderung begegnet sind.
Es ist tiefer Winter, er ist schwach und kommt nicht weit.
Noch am selben Tag (den 14. Jänner 1674) findet ihn ein Bauer tot auf. Er liegt rücklings auf einer Viehweide, eine Hand auf dem Herzen ruhend. Es sind keine Anzeichen einer Verletzung vorhanden. Der Bauer schickt nach dem Amtsrichter und einigen Nachbarn.
Sie erkennen ihn und machen sich auf den Weg zum Halterhaus. Die Fragen, die sie Barbara stellen, muten boshaft an: �Baberl, wo ist dein Breitigam? Hast du ihn ausgeschickt oder ist er selbsten gangen? Da liegt er todter, was willst mit ihm tun?�
Barbara bricht in Tränen aus und sagt, sie habe kein Geld und könne ihn nicht begraben lassen.
Die Männer fragen beim Pfarrer von Kottes an, was sie mit der toten Person machen sollen. Dieser erlaubt ein Begräbnis am Kirchschläger Friedhof. Falls er aber nichts besitze, womit man den Totengräber bezahlen könne, "dann sollen sie ihn eingraben, wo sie wollen".
Sie kehren zurück und reden Barbara gut zu: Mathias habe sie versorgt, nun solle sie ihm die letzte Treu erweisen und den Toten waschen. Die Männer gehen mit einem Schlitten zu dem Leichnam, laden ihn auf und ziehen ihn vor das Halterhaus. Es war Mittag, der 15. Jänner 1674.
Barbara tut dem Verstorbenen die letzte Pflicht und abends kehren die Nachbarn wieder, einer hat bereits ein Grab geschaufelt bei einer Kreuzsäule in der Nähe, einer legt eine Spur durch den Schnee. Barbara zieht den Schlitten mit dem Leichnam hinter sich her, die Kinder schieben an. Sie und einer der Männer legen Mathias in sein einsames Grab, die anderen scharren die Grube anschliessend zu.
Man brachte also die Angelegenheit so respektvoll und pragmatisch zu Ende wie möglich.

Beim nachfolgenden Verhör durch die Herrschaft versucht man zu klären, ob Mathias eventuell sich selbst in Verzweiflung getötet haben könnte oder ob er durch fremde Hand gestorben sei. Im ersten Fall hätte man ihn wieder ausgraben und als Selbstmörder durch den Henker �vertilgen� lassen müssen, also unter dem Galgen verscharren, in einem Fass verschlossen in den Fluss werfen und ähnliches. Der zweite Fall hätte Investigationen zur Folge gehabt, Verhöre und Gerichtsverhandlungen. Äusserst wichtig erschien auch in der Zeit nach der Gegenreformation die Klärung der Frage, ob der Verstorbene denn rechtgläubig gewesen sei.
Es wird festgestellt, dass Mathias Lindner niemals Worte der Verzweiflung hören liess, fleissig gebetet habe und sich sogar zu Fronleichnam mit einem Fliessteiner zur Prozession nach Aggsbach bringen lies, also �guet cathollisch� war. Keiner der Anwesenden hatte Verwundungen oder Spuren von Gewalteinwirkung erkennen können.
Der katholische Mathias Lindner war also eines natürlichen Todes krankheits- und kältebedingt verstorben - mit 24 Jahren.
Niemandem entstanden dadurch Kosten, der Fall wurde ad acta gelegt.

Ob und wie Barbara und ihre Kinder nach dem Tod des Mathias Lindner ein Auskommen hätten, kümmerte die Obrigkeit nicht weiter. Hier verliert sich auch ihre Spur. 1706 wurde in Kottes ein 70-jähriges �Bettelmensch� namens Barbara begraben, sie könnte es gewesen sein.
Im Laufe der elenden Zeit, die sie noch herumziehend verbrachte, kannte niemand mehr ihren Namen. Vielleicht nicht einmal sie selbst.

Die �Kreuzsäule� und der Grenzstein, neben welchen der 24-jährige Mathias Lindner seine letzte Ruhe fand, mögen noch existieren, er selbst und seine Baberl, die einander letztendlich gefunden und wieder verloren haben, sind längst vergessen.